PHYTO-ORGANISCHE SYSTEME
Arbeiten von Amely Spötzl im Dialog mit Werken der Klassischen Moderne
Prof. Dr. Nils Büttner, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Über Jahrhunderte galt es als höchstes Ziel jeder Kunstübung, die Natur möglichst getreu abzubilden. Mimesis, die zum Verwechseln ähnliche Nachahmung, hieß dieses künstlerische Ideal. Erst mit der Klassischen Moderne wurden die Gegenstände der Kunst nicht mehr allein der Natur entnommen. Vielmehr begannen Künstler aus eigenem Antrieb und ohne jeden Auftrag, ganz aus sich heraus, der zeitgenössischen Wirklichkeit neue Bilder hinzuzufügen. Der Vielfalt emotionaler und intellektueller Reaktionen auf eine sich stetig wandelnde Wirklichkeit und ihre Reflexe in der Kunst und den Medien korrespondiert eine Vielzahl avantgardistischer Positionen. Wichtige Stationen markieren Jean Dubuffet, Max Ernst, Wilhelm Imkamp, Otto Nebel, Theodor Werner u.a.
Daß Kunst und Natur dabei keinesfalls im Widerspruch stehen müssen, erweisen die Arbeiten von Amely Spötzl. Die Hervorbringungen der Natur sind für sie Ausgangspunkt künstlerischer Schaffensprozesse. Dank ihres ausgeprägten Formgefühls werden die pflanzlich-organischen Elemente gleichsam in die Kunst eingebettet.
Bei den Rohstoffen, die sie der Natur entnimmt, findet und erweckt sie mit viel Gespür Themen, die oft in winzigen Dingen oder Gesten stecken. Das Pflanzendetail wirkt vertraut, doch wird es andererseits so verfremdet, das man mit anderen Augen sieht, was man zu kennen meinte. Was fremd war, wird vertraut. In dem künstlerischen Prozess der Entfremdung verbinden sich Humor, Formgefühl und Aussagekraft.
Mit Bedacht und Respekt gegenüber dem Material macht Amely Spötzl aus kleinen Dingen große Kunst. Ihre Arbeiten sind von jener Klarheit, die als Ideal der Rhetorik auch von einer guten Rede gefordert wird. Sie sind einfach und klar.Amely Spötzl vertraut auf die Sprache und Energie der Dinge. Die Dingwelt, der sie gleichermaßen ihr Material und ihre Formensprache entnimmt, ist eine Natur die eine schier unglaubliche Vielfalt von Samen, Sprossen und Trieben hervorbringt. Es wirkt, als würde der Energieeintrag, den Sonnenenergie und Photosynthese im Grünen und Blühen produzieren, in den künstlerischen Arbeiten fortwirken. Sie wirken gleichsam energetisch aufgeladen und aktivieren zu gleicher Zeit Energien, sobald man sich nur darauf einlässt.
Wie bei einer chemischen Reaktion bedarf es dann nur eines kleinen Anstoßes, um viel zu bewegen. Kunst und Natur werden zu Reagenzien eines katalytischen Prozesses, der durch Zeit und Ort befeuert wird. Es ist die Wirkung überzeugenden Ausdrucks, die bei der Betrachtung von Werken der Kunst – alten wie neuen – spürbar wird.